Question of Perspective
Question of Perspective
Nadine Godehardt

Regenschirme in Hongkong

 

Der erste Blick

Ich sitze in der U-Bahn und um mich herum ist Business as usual, Rush hour, Züge, die im Ein-Minuten-Takt fahren. Wir bewegen uns im Fluss und man kann in der Masse nicht gegen den Strom gehen, denn stromlinienförmig bewegt man sich automatisch richtig. Oftmals gibt es keine Alternative – es geht nur so und nicht anders. Hier wird wieder deutlich, dass Asiaten Massen gewöhnt sind. Ohne diese Verkehrsführung würde auch hier Chaos ausbrechen und nichts mehr gehen. Connectivity ist der Schlüssel, fahre ich durch Hongkong, Shanghai und Co. wird das sehr deutlich. In der U-Bahn kann ich die Gespräche kaum verstehen, manchmal ein paar Brocken, Kantonesisch ist eine eigene Sprache. Ab und an höre ich Festlandchinesen, meistens unterhalten sie sich über das, was sie hier vor Ort kaufen können. Oder chinesische Studenten, die darüber reden, wo sie essen werden. Es gibt viele Festlandstudenten in Hongkong, sie sind mitten drin und leben doch in ihrer ganz eigenen Blase.

Ich fahre Richtung Central/Admiralty zum Regierungsviertel, steige aus und noch immer deutet nichts darauf hin, was mich erwarten wird. Die Mitarbeiter der Metro stehen an jeder großen Haltestelle – auch das ist nichts Besonderes. Langsam gehe ich zum Ausgang, nichts ist gesperrt, nirgendwo steht offensichtlich Polizei. Ich gehe die erste Treppe hoch und sehe die beklebten Wände, alles ist voll mit Bildern und Slogans. Umbrella-World ich bin mitten in ihr. Ich tauche aus der U-Bahn auf und mein Kopf steht in einem riesigen Zeltlager, das eine sechs- oder achtspurige Straße besetzt hält.

Hier ist kein Business as usual. Hier ist ein organisierter Ausnahmezustand, zugelassen von der Regierung, die jeden Tag auf dieses Lager schauen muss, ebenso wie die chinesische Volksbefreiungsarmee, deren Sitz direkt im Regierungsviertel ist. Peking ist nah dran an Hongkong. Ich stolpere durch das Zeltlager und bin völlig überwältigt. Es ist ruhig, sehr entspannt, es hat beinahe etwas Spirituelles. In der Ruhe liegt die Kraft – wenn ein Spruch sich wirklich wiederspiegelt, dann dieser. Ruhe – Kraft – Mitte. Die Demonstranten erschaffen ihre eigene Welt fern ab von all den unterschiedlichen Interessen, die auch auf diese junge Bewegung einwirken und zeigen, dass Demokratie tatsächlich etwas ist, das von ihnen mit Inhalten gefüllt werden muss.

Ich wandere über den Admiralty und sehe die geballte Kreativität, nicht nur in den vielen kleinen und großen künstlerischen Projekten, sondern auch in der direkten Kommunikation. Rentner, deren Augen leuchten, erschöpfte Studenten, die lachend zusammen sitzen und essen, die „Study Area“, in der Schüler und Studenten lernen, die Versorgungslager, und die vielen Sit-ins – alles ist unfassbar sauber und organisiert und es wird klar: dies ist wirklich ein Hongkonger Protest, nicht irgendeine Anlehnung an Occupy Sonstwo, sondern viel mehr Regenschirm als Occupy. Eine postmoderne Bewegung, die erst mal da ist, um zu bleiben.

Ich gehe immer wieder von einem zum anderen Ende, hier und da ein Gespräch, stehen, sitzen, tiefes Ein- und Ausatmen. Ich fühle mich wie ein Besucher, der gar nicht so richtig verstehen kann, was hier passiert. Es ist nicht mein Kampf. Ich ringe mit mir und verstricke mich in einen gedanklichen Dialog darüber, wofür ich eigentlich kämpfen würde. Was wäre mir so viel wert in stoischer Ruhe auszuharren? Das Leben hier ist so nah dran an meinem Leben und doch ist es mindestens so weit weg wie die Distanz zwischen Deutschland und Hongkong eben ist – weit!

 

Räumung

Denk ich an Hongkong in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. Das können wir im Moment für viele Orte dieser Welt sagen und es ist sicherlich nicht als erstes Hongkong, das uns in den Sinn kommt. Nun als Düsseldorferin sitze ich am Schreibtisch mitten in der Nacht und bin in der Tat um den Schlaf gebracht. Meine kleine Stube an einer Hongkonger Universität bietet die Ruhe um diesen Tag nochmals und eigentlich immer wieder zu erleben. Ich kann nicht schlafen und überlege doch noch laufen zu gehen, vielleicht stellt mein Kopf dann mal auf Pause – keine Bilder, keine Eindrücke, keine Gedanken, keine Gespräche, keine Worte. So einfach geht das nicht, also sitze ich, höre Musik, und halte den Stift unendlich lange in der Hand.

Ich frage mich, wie ich das erklären kann, was ich heute erlebt habe; das Räumen der größten Demonstration auf chinesischem Boden seit sehr langer Zeit (manche munkeln seit 1989) und ich war mitten drin, habe mich treiben lassen von dem Gefühl der Unwirklichkeit und der starken Vorstellung, das schon nichts passieren wird. 1989 beherrscht immer noch unser Bild von Demonstrationen und China. Wir denken an den Kampf für Demokratie, an Zivilcourage, an den „tank man“ und das böse Regime auf der anderen Seite. Wir im Westen haben so eine Tendenz grundsätzlich zu wissen, wer auf welcher Seite steht – manchmal sogar bevor das die Protagonisten auf der Straße überhaupt selber wissen.

Die Bilder aus Hongkong, das Tränengas der ersten Stunde, die Eskalation bei der Räumung von Mongkok, dem Einkaufsdistrikt, der oft überrannt wird von chinesischen Touristen, der ständige Verdacht, dass Peking seine Finger im Spiel hat. Am Anfang der Proteste hatte ich eher den Eindruck, dass wir das Eingreifen der chinesischen Armee – chinesische Panzer und ein zweiter „tank man“ – fast herbeisehnten. Denn wo bleibt sonst die Story? Eine friedliche Protestbewegung in Hongkong? Wo war das gleich? Schüler, die für die Zukunft Hongkongs kämpfen, die ihrer Frustration kontrolliert freien Lauf lassen und keine direkte Konfrontation mit Peking suchen, sondern eine Veränderung in Hongkong herbeisehnen? Große Enttäuschung! Keine Story! Und wie gut hätte das sein können: „14jährige Schülerin gegen Hongkonger Polizei, die brutal zuschlägt!“ Oder: „Wir lassen uns verprügeln für allgemeine und freie Wahlen in Hongkong!“ Das alles reicht nach mehreren Wochen nur noch für eine Fußnote – Peking bleibt ruhig, so auch der Westen und Hongkong kämpft weiter, und zwar mit sich selbst, der Zukunft, dem wachsenden internationalen Desinteresse, was gibt es schon zu gewinnen?

Ich stehe auf dem Admiralty, schlendere über diese riesige Straße, mache Fotos, rede mit Protestlern, die ihre Zelte abbauen oder Wasser verschenken, da viel zu viel Material überall gelagert wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies in wenigen Stunden weg sein soll und hier einfach wieder Autos fahren werden. Unvorstellbar! Ich sitze auf dem Mittelstreifen und trinke einen Kaffee und beobachte die Business Leute, die ihre Mittagspause auf die Straße verlegen wie so oft in den letzten Wochen. Ein netter Nebeneffekt und dazu noch Protest live! Ich blicke auf den Sitzprotest vor dem Büro des Chief Executives – nur eine Spuckweite vom Hauptgebäude der chinesischen Volksbefreiungsarmee in HK. Das „who is who“ der Regenschirm-Bewegung ebenso wie Vertreter der Schüler- bzw. Studentenvereinigungen ist da. Sie sitzen auf dem Boden, um sie herum eine riesige Anzahl an Journalisten. Fotos, Interviews – man spürt, ein letztes gemeinsames Aufbäumen. Und überall wo ich hinschaue Journalisten, manchmal mehr als Protestler. Ich wundere mich über die Bilder, die das ergeben wird und vor allem welches Narrativ später vorherrschen wird. Ich spüre vor allem die friedliche wie geschäftige Atmosphäre. Gleichzeitig liegt auch etwas Schwerfälligkeit, Demut und Traurigkeit in der Luft. Zwei ältere Hongkonger erzählen mir, wie schade es ist, dass es dies nun gewesen sein soll und wie sehr sie es genossen haben zusammen mit den jungen Menschen Teil dieser Bewegung gewesen zu sein. Ich schmunzele und sage, was auf einigen der Bannern und Plakaten steht: „Das ist nur der Anfang.“ Die beiden Rentner lächeln zurück.

Ich laufe weiter, fotografiere die unzähligen Plakate und Zettel, die überall an die Wände geklebt worden sind, wenn auch die Lennon Wall in der Nacht bereits von den Demonstranten gesichert wurde. Die „Hongkong Wall of Post-it“, eine Post-it Landschaft zur Unterstützung der Regenschirm-Revolution. Bunt. Leicht zerstörbar. Analog.

Regenschirme liegen rum oder hängen an Geländern, Zelte sind verlassen und zurückgelassen, unwirklich, ein bisschen wie nach einem Festival, mit der Ausnahme, das hier viele selbstständig aufräumen. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit schon vergangen ist, mein Zeitgefühl hat mich stets verlassen, sobald ich inmitten dieser Zelte stand und diese vielen jungen und junggebliebenen Hongkongern beobachten konnte. Ob Hongkonger oder Taiwaner, wie soll ich das unterscheiden? Es sehen doch alle auch aus wie Chinesen und in meinem Kopf rührt sich die Frage, was wäre, wenn dies Nanjing, Shanghai oder Chengdu wäre. Ein Ort mit einer unendlichen Kraft. Und obwohl das nicht mein Kampf ist, habe ich die Sehnsucht verstanden ebenso wie die Zwickmühle, in der Hongkong steckt. Denn Hongkong ist ein Teil Chinas – egal wie anders. Nur in diesem Rahmen kann sich Hongkong bis 2047 entwickeln, d.h. Hongkonger können sich als Hongkonger fühlen dennoch bleiben sie Chinesen. Ein weiterer Grund, warum Hongkong für viele internationale Nachrichtensenden irgendwann kompliziert wird. Denn geht man in die Details dieses Verhältnisses wird es richtig schwierig. Basic Law, ständige Reformbemühungen, Autonom aber nicht souverän, „ein Land, zwei Systeme“, 30 Jahre Demokratiebewegung sowie eine ausgereifte Hongkonger Protestkultur. Schwierig. Nicht eindeutig. Nicht gut, nicht böse. Nicht schwarz, nicht weiß, sondern ganz viel grau. Wer will das schon wissen?

Ich sehe die Polizeireihen, die immer näher kommen und denke mir immer noch nichts dabei. Auf einmal ist jedoch klar, dass ich nicht mehr wegkomme und die Polizei ernst macht. Viele, auch Ausländer, um mich herum werden unruhig. Was passiert jetzt? Wie lange müssen wir hier bleiben? Die Polizisten sind ruhig und nicht in voller Ausrüstung. Sie bewahren Ruhe. Ab und an begleiten sie Personen zu den öffentlichen Toiletten, die jetzt außerhalb der Polizeikette liegen. Je länger wir ausharren müssen – und auf einmal wird Zeit tatsächlich fühlbar – desto nervöser werden alle. Es heißt, die Personalien werden aufgenommen. Ich habe keine Ahnung, was das für mich heißt. Ich war zufällig hier, irgendwie war mir nie klar, wann und ob überhaupt dieser Platz bzw. diese Straße geräumt wird. Ich blicke auf und sehe direkt in das Gesicht einer älteren Dame. Sie lächelt und fragt mich, vorher ich komme. „Deutschland. Schön.“ Sie erzählt, dass sie auch schon in Berlin war. Dann schaut sie mich an, in der einen Hand ihren Klappstuhl, in der anderen einen Jutebeutel mit Utensilien der Bewegung, und sagt: „Ich werde meinen Ausweis nicht zeigen! Ich habe nichts Verbotenes getan. Sie können mich fragen, aber komme was wolle, meine Personalien werde ich nicht nennen.“ Sie betont mehrmals: „Warum wollen die meinen Namen wissen? Nein. Ich werde denen nichts sagen. Es ist auch mein Hongkong.“ Dann baut sie ihren Klappstuhl auf und setzt sich darauf. Sie wirkt erschöpft, plötzlich auch sehr alt und dennoch zufrieden. Ich nicke ihr zu und setze mich neben sie auf den Bordstein und zusammen warten wir darauf, irgendwann Admiralty verlassen zu dürfen.

 

 

 

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© Question of Perspective by Nadine Godehardt